Freitag, 11. April 2014

Wir ahnen nicht, was uns erwartet

Science-Fiction als Realität im Jahr 2014. Im Fokus steht Googles Datenbrille, angesiedelt zwischen der Banalität eines Smartphones und dem Gottseibeiuns der Datenschutzcommunity. Im dreimonatigen, persönlichen Intensivtest zeigt sich die „Google Glass“ immens gefährlich – und beängstigend hilfreich.

Es läuft nicht gut. Eine technikbegeisterte Bekannte sitzt mir beim Nachmittagscafé gegenüber und belauert missmutig jede meiner Augenbewegungen. Seit sie eben selbst testen konnte, welche faszinierenden Schnappschussmöglichkeiten eine „Google Glass“ bietet, ist die Stimmung emotional angespannt. Ich merke, wie ich in ihrer Charakterwertung vom hippen Technik-Trendsetter zum schrulligen Halb-Stalker mutiere. Mein Einwand, dass es idiotisch und hirnrissig sei, jemanden heimlich zu filmen, wird geflissentlich überhört. Auch mein Hinweis, dass – falls jemand wirklich heimlich filmen möchte – man mit 19€ Knopflochkameras besser bedient wäre als mit einer 2.000€ Datenbrille, trägt nicht zur Verbesserung der Situation bei. Als ich mich weigere die Brille abzunehmen – schließlich will ich sie auf ihre Alltagstauglichkeit testen und die Grenzen ausreizen – verabschiedet sie sich knapp und verlässt das Café.
Ich denke mir, dass dies wohl der Preis sei, den ein Early-Adopter als Kreuzritter des Fortschritts zu zahlen hat. Beängstigender Weise gab es in den letzten drei Monaten nur eine Handvoll solcher ablehnenden Erfahrungen.

„Die Datenbrille ‚Google Glass‘ ist weltweit nur einer kleinen Zahl von Testern zugänglich. In Österreich existieren derzeit eine Handvoll.“

Information wird präsenter
Technisch orientiert sich die „Google Glass“ auf den ersten Blick an gewöhnlichen Smartphones des Jahres 2011. Ein Dual-Core-Prozessor, 12 GB verfügbaren Speicher und einige Verbindungsmöglichkeiten wie WLAN oder Bluetooth sorgen nicht unbedingt für Begeisterungsstürme. Ihr volles Potenzial entfaltet die Datenbrille erst in Kombination mit einem Smartphone – Internetzugang, GPS-Ortung und Sprachtelefonie laufen ausschließlich über das gekoppelte Handy. Auffällig ist die unkonventionelle Idee, altbekannte Technik in ein Brillengestell zu verpacken. Anstatt auf ein Handydisplay blickt man auf ein durchsichtiges Prisma, das im oberen, rechten Blickwinkel platziert ist. Fotos, Tweets oder Textnachrichten können so angesehen werden, ohne das Telefon aus der Hosentasche zu holen. Man bekommt dadurch zwar nicht mehr Informationen – bedingt durch die Displayauflösung von 640 mal 480 Pixel eher weniger – aber diese eben schneller und origineller präsentiert.
Viel mehr als Landschaftsfotos zu knipsen, Kurzfilme zu drehen, einen Textübersetzer zu versuchen, Musik zu hören und sich durch die Straßen navigieren zu lassen ist derzeit nicht möglich. Die derzeitige „Google Glass 2.0 – Explorer Edition“ ist ohnehin nur für Softwareentwickler interessant und dient dazu, Programmideen zu sammeln und rechtzeitig vor dem offiziellen Marktstart zu realisieren. Wenn man sich sein eigenes Smartphone ohne Apps vorstellt hat man einen guten Einblick, in welchem Entwicklungsstadium sich die Datenbrille derzeit befindet.


Eine gesellschaftliche Revolution steht uns bevor
Doch wir sollten uns nicht täuschen lassen. Dieses derzeitige Fehlen von Applikationen sind nur kleine Schlaglöcher auf der Datenautobahn zur Marktbeherrschung. In weniger als 48 Monaten wird die Applikationsfülle jenes Ausmaß erreicht haben, das wir von Apples iTunes oder Googles PlayStore für unsere Smartphones kennen. Google offeriert den Softwareentwicklern nahezu alles, was sie sich wünschen: Unkomplizierten Zugang zu Schnittstellen, eingebettet in ein technisch einwandfreies Komplettangebot.
Die gesellschaftlichen Auswirkungen, die Veränderungen für unseren Alltag, sind bereits jetzt – nach einem dreimonatigen Intensivtest – spürbar. Alles, was wir unter Privatsphäre verstehen und als Selbstverständlichkeit hinnehmen, steht zur Disposition. Lediglich, wir führen diese Diskussion nicht. Größter Kritikpunk ist die Kamera auf der Frontseite, die – auch bei widrigen Lichtverhältnissen – Fotos in bestechender Qualität aufnimmt. Es ist für Außenstehende unmöglich zu erfassen, ob die Kamera gerade aktiv ist oder nicht. Es gibt weder eine Status-LED, die bei Aktivität leuchtet, noch eine geschlossene Iris, wie wir sie von einigen Digitalkameras kennen. Der „Chaos Computer Club“ demonstrierte, dass es möglich ist, von außen auf die Kamera zuzugreifen und – auch für den Brillenträger unbemerkt – Fotos und Videoaufnahmen abzugreifen. Bei einer statistischen Verbreitung von 5 % hätten wir damit ein flächendeckendes, mobiles Videoüberwachungsnetzwerk aufgezogen. Staatliche Ermittlungsbehörden, Hacker, Google selbst – jeder, der sich anschickt Zugriff zu erhalten – hat damit in Kombination mit einer Gesichtserkennungssoftware das Potenzial, Profile zu kreieren, die 1984 weit hinter sich lassen. Man muss die Datenbrille nicht selbst tragen, es genügt, wenn es andere tun. In vertraulichen Gesprächen mit Versicherungsunternehmen deutet sich bereits an, wohin die Reise gehen könnte. Wenn Gesundheitsversicherte angeben, einen gesunden Lebensstil zu pflegen, aber von unterschiedlichen Datenbrillenbenutzern um 11:37 Uhr beim Kebabstand, um 11:59 beim Würstelstand und im Anschluss bei zwei Stück Sachertorte gefilmt werden, ist dies für die Berechnung der monatlichen Prämie nicht uninteressant. Das Hochleistungsmikrofon – mit dem die Sprachsteuerung der Brille qualitativ ermöglicht wird – ist für diese Profile ein interessanter Mosaikstein. Im Moment ist die Datenbrille fast ausschließlich im Standby-Modus. Erst durch eine händische Aktivierung durch einen Druck auf das Touchpanel wird das Mikrofon aktiv und reagiert auf das Signalwort „OK GLASS“. Eine energiesparende Verlegenheitslösung, da ansonsten der Akku innerhalb kürzester Zeit aufgebraucht wäre. Bei einer entsprechenden Weiterentwicklung der Kapazitäten steht dem Dauerscan technisch nichts im Wege. Private Meinungsäußerungen, kritische Diskussionen, politische Debatten – in Anwesenheit eines Datenbrillenträgers zu sprechen kann leicht als Spitzel- und Denunziantentum (fehl)interpretiert werden. Als Maßstab sollte hier nicht der sichere Hafen europäischer Demokratie in Friedenszeiten gelten. Wir müssen den Blick auch nicht nach Nordkorea schweifen lassen. Türkei und Ukraine genügen.

„Im persönlichen Gespräch mit Freunden stets die aktuelle Weltlage im Auge.“

Wirtschaftliche Goldgräberstimmung trotz banaler Probleme
Die Tourismusbranche erahnt das Potenzial der „Google Glass“. Ich habe bereits eine Machbarkeitsanfrage für eine „Wanderweg-Applikation“ erhalten. Man wählt zwischen mehreren Wanderrouten – gestaffelt nach Dauer und Schwierigkeitsgrad – und wird durch die GoogleMaps-Integration sicher durch die Landschaft navigiert. An definierten Punkten werden – durch GPS-Lokalisierung - Audiokommentare eingespielt, per Augenzwinkern können Fotos geschossen werden. Bei der Rückkehr in den Buschenschank erwartet einen bereits ein ausgedrucktes Bilderbuch mit den schönsten Wanderimpressionen.
Der Ausbildungsbereich steht vor massiven Umbrüchen. Man muss sich künftig noch weniger auf sein eigenes Wissen verlassen. Informationen werden intuitiv gegoogelt und die Antworten im Sichtfeld eingeblendet. Bei mathematischen Formeln blickt man auf den Zettel und erhält die Lösung, bei Fremdsprachen die deutsche Übersetzung. Einsätze in der Hotellerie und bei Airlines werden gerade im Feldversuch erprobt.
Es gibt eine Vielzahl von banalen Problemen, die den Alltagseinsatz erschweren. Bargeldbehebungen am Bankomat werden mit aufgesetzter Brille zum Misstrauensakt. Da die Kamera genau auf das Nummernfeld gerichtet ist ertappt man sich dabei, wie man den Pin-Code bei der Eingabe vor sich selbst verdeckt. Für nächtliche Kneipen- und Discothekentouren ist die Datenbrille kein hilfreicher Begleiter. Die mitternächtliche, alkoholgeschwängerte Stimmung an der Pissoir-Wand in der Männertoilette, wenn man mit aufgesetzter Kamera in Reih und Glied steht, ist – gelinde gesagt – gereizt.


Ich sehe was, was du nicht siehst
Wir befinden uns inmitten der technischen Realisierung dieses Kinderspiels. Eine Gesichtserkennung ist zwar aktuell die von Google gezogene „rote Linie“ – sowohl für den Großkonzern selbst, als auch für Softwareentwickler, die ihre Programme offiziell vertreiben wollen. Inwieweit diese Selbstkasteiung von Dauer ist bleibt angesichts des immensen Marktpotenzials fraglich. Wir sind hier auf gegenseitiges Vertrauen angewiesen.
Nicht förderlich für dieses Vertrauen ist die Tatsache, dass die gesamte Kommunikation der Datenbrille über Googles US-Server läuft. Jegliche Interaktion zwischen externen Webanwendungen und der Google Glass passiert Googles Datencenter – ein Ausschluss des amerikanischen Datensammlers ist derzeit nicht möglich. Sämtliche Fotos auf der Brille werden, bei verfügbarer Internetverbindung, unverzüglich mit der Google Cloud synchronisiert. Offiziell, um den knapp bemessenen Speicherplatz auf der Brille zu sparen. Gerüchte, was inoffiziell mit diesen Bildern passiert, wuchern auf dem Nährboden der NSA-Spionageaffäre. Da die Brille mit einem Google-Account aktiviert und verbunden werden muss, lässt man sich vollständig auf das Angebot des US-Multis ein. Youtube für Vidoes, GMAIL für E-Mails, Google für Suchanfragen, GoogleMusic für Songs – eine Synchronisierung der Telefonkontakte inklusive.

Die technologische Evolution durch Datenbrillen ist, analog zum Siegeszug der Smartphones, nicht aufzuhalten. Zu nützlich, zu intuitiv und lässig gestaltet sich eine Massenintegration in den Alltag. Umso dringender brauchen wir eine politische Debatte auf europäischer Ebene, falls wir irgendetwas aus Edward Snowdens Enthüllungen gelernt haben. Falls diese gesellschaftliche Diskussion ausbleibt und wir die Verantwortung an die Softwareentwickler delegieren – was technisch möglich ist, wird gemacht und genutzt – sind Silvesterpartys sinnlos. Dann sitzen wir im Jahr 1984 fest. 

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